Jede achte Frau erkrankt in ihrem Leben an Brustkrebs. Doch diese Diagnose bedeutet heutzutage nicht den Tod: Je früher Brustkrebs erkannt wird und umso entschiedener man gegen ihn vorgeht, desto größer sind die Heilungschancen.
Was bedeutet die Diagnose Brustkrebs für Sie, Frau Melle?
Bei mir handelte es sich 2009 um ein sogenanntes triple-negatives Karzinom. Eine weitere Untersuchung bestätigte außerdem, dass ich Trägerin des Krebs-Gens BRCA bin; und bei mir somit eine große Gefahr für Eierstockkrebs. Da dieser schwer zu erkennen und behandeln ist, habe ich mich für die empfohlene Ovariektomie entschieden.
Ich wusste deshalb so genau, was zu tun ist, weil meine Mutter dieselbe Diagnose im selben Alter hatte. Sie ließ sich damals nur die betroffene Brust abnehmen und lehnte die Chemotherapie ab – ein paar Jahre später war der Krebs in der anderen Brust zurück. Dann ging es weiter mit Darm, Lunge, Leber und Hirnstreuung. Sie starb drei Tage nach meiner Diagnose, in der Nacht nach meinem 40. Geburtstag. Natürlich hatte ich daher den Tod vor Augen. Dennoch trug ich eine gewisse Klarheit in mir, was zu tun ist, um länger mit dem Krebs zu leben.
Der Tod ist ein alter Sack voll Knochen. Ich habe keine Angst vor ihm. Meine Erkenntnis aus den Erfahrungen mit sterbenden Menschen ist, dass man am Ende angstfrei loslassen können muss. Meine Mutter konnte das. Sie ist mit einem Lächeln gestorben. Sie ging einfach. So war sie. Sie sagte jeden Abend: „Jetzt gehe ich aber zu Bett.“, blieb aber noch da, wiederholte den Satz noch zweimal, stand noch fünf Minuten still beobachtend im Türrahmen und war erst dann irgendwann verschwunden. Eine wunderbare Frau.
In meinem Leben habe ich schon mehr als 180 % von dem erreicht, was ich erreichen kann. Ich bin im Sahnehäubchen-Modus angelangt; jeder Tag ist schön. Am 6. April werde ich 54 Jahre alt. In diesen Tagen jährt sich der Todestag meiner Mutter und meiner Diagnose zum 14. Mal. Ich werde das Leben feiern.
Was wünscht man sich in dieser herausfordernden Zeit vom eigenen Umfeld?
Verständnis, Unterstützung, Offenheit – oder auch Normalität? Das Problem ist, dass wenige Menschen aus dem Umfeld dableiben; immerhin dauert die Therapie mindestens ein Dreivierteljahr. Das halten einige nicht durch. Ich habe damals zirka die Hälfte meines Freundeskreises „verloren“ – vermisse jedoch niemanden davon.
Von meinen wunderbaren Kindern und meinem großartigen Mann habe ich in der Zeit alles an Unterstützung bekommen; ich hatte aber auch immer ein schlechtes Gewissen, nicht genug für sie da sein zu können. Monatelang machte ich mir jeden Abend Vorwürfe, dass ich mich am Tag doch hätte mehr anstrengen hätte können. Die Folge war eine klassische Fatigue – wieder eine Verlängerung der Genesung und eine Belastung für das gesamte Umfeld.
Durchgehend einen geliebten Menschen absolut hilflos leiden zu sehen, der täglich physische und psychische Schmerzen hat, ist sehr schwer. Und das machen nur Menschen mit, denen ich wichtig bin.
Sie haben ja eine Mastektomie und eine Ovariektomie durchlaufen – hat Sie das Ihre Weiblichkeit in Frage stellen lassen? Was wollen Sie Frauen mitteilen, die sich vor diesen Eingriffen fürchten?
Ich habe meine Brüste geliebt. Mein Mann auch. Sie waren sehr klein, aber sehr schön. Doch ab dem Moment der Diagnose fühlte es sich an, als ob eine Assel in meiner Brust ist, die ich aufhalten musste, bevor sie Eier legt. Mein sehr guter Onkologe antwortete auf meine Entscheidung, gleich beide Brüste abzunehmen, in Bezug auf die Krankengeschichte meiner Mutter ein „Da bin ich Ihnen aber sehr dankbar!“.
Der Zufall wollte es, dass meine Freundin Jackie Hardt, die Fotografin ist, mir zum 40. Geburtstag ein Fotoshooting geschenkt hat, einen Tag nach der Diagnose. Wunderschöne Bilder – auch solche „oben ohne“ – entstanden. Dieser Abschied von meinem Busen stellte die Frage nach einem Neuanfang. Wie wird mein Körper aussehen? Bin ich dann noch sexy? Ich bat Jackie um ein weiteres Fotoshooting nach der OP, um das herauszufinden.
Meine Idole sind Marlene Dietrich, Madonna, Marilyn Monroe, Grace Jones, Prince und David Bowie. Alle sehr sexy, jedoch nicht wirklich „typisch männlich/weiblich“. Ich habe mir Vorlagen ikonischer Fotos genommen und sie nachgestellt. So sind die ersten Fotos entstanden – und mit diesen bin ich zu meinem Mann gegangen und habe ihm gesagt, dass er zwei Wochen Zeit hat zu überlegen, ob er findet, dass ich Brüste brauchen würde oder nicht. Eine Woche später schenkte er mir das Bild einer Amazone ohne Brüste mit dem Schriftzug „Klarheit, Wahrheit, Schönheit“. Die starke Kriegerin war schon immer sein Bild einer Frau.
Ein Jahr später organisierte ich ein Shooting mit 18 weiteren Brustkrebs-Frauen aus ganz Deutschland mit Jackie Hardt und Esther Haase als Fotografinnen. Als die Frauen den Raum betraten, waren sie zunächst sehr zögerlich, sagten, sie würden sich aber nicht ausziehen oder die Perücken absetzen. Doch nach 20 Minuten war das Eis gebrochen. Kaum war eine Narbe ausgepackt, flogen die Kleider – kaum eine hatte vorher eine solche Narbe bei einer anderen Frau gesehen.
Diese Erfahrung hat das Leben der anwesenden Frauen komplett beeinflusst. Zwei ließen sich danach die zweite Brust abnehmen, einige fingen einen neuen Job an; neuen Mut und Kraft schöpften alle. Manchmal muss man sich aus einer anderen Perspektive betrachten, um sich neu entdecken zu können.
Wie haben die unterschiedlichen Eingriffe den Bezug zu Ihrem Ehepartner verändert?
Durch die Ovariektomie werden frühzeitig die Wechseljahre eingeleitet. Wie hat dies das Sexleben mit Ihrem Partner beeinflusst und warum muss Sexualität nicht gleich „Sex“ im herkömmlichen Sinn bedeuten?
Meine Brüste haben uns anfangs natürlich gefehlt – das Spiel, das Gefühl, die Ästhetik. Das war aber nicht wirklich ein Problem. Anders war es nach der Eierstockentfernung. Der Arzt hatte mich zwar aufgeklärt, dass es zu Libidoproblemen kommen könnte, allerdings dachte ich mir mit Hinblick auf unser sehr gutes Sexleben insgeheim: „Ja, ja; erzählen Sie ruhig … ich doch nicht.“ Meine Einstellung half nicht wirklich zu akzeptieren, dass es doch passierte. Die Schleimhäute trockneten aus, meine Scheide verengte sich – Sex wurde schmerzhaft. Ich habe es lange Zeit nicht wahrhaben wollen, doch als ich las, dass 50 % aller Frauen in der Menopause mit Libidoproblemen zu kämpfen haben, begann ich es zu akzeptieren. Es verging eine lange Zeit, bis ich mit meinem Mann darüber reden konnte. Man muss sich verabschieden, bevor man etwas Neues starten kann. Laut Studien enden ca. 20 % der Partnerschaften, wenn die Frau Krebs hat, aber nur ca. 3 %, wenn der Mann betroffen ist. Ich hatte sehr viel Glück, dass ich einen Mann habe, der mit der Hilflosigkeit einer plötzlichen Veränderung, mit der Angst und auch mit den langwierigen Schmerzen des geliebten Menschen an der Seite umgehen konnte. Er schrieb sogar ein Buch über das erste Jahr nach der Diagnose – sehr offen und ehrlich. Es heißt „Die Amazone vom Kollwitzplatz“.
Die Fotos in Ihrem Fotobuch sind unglaublich ästhetisch. Ist es Ihnen leicht gefallen, zu Ihrer eigenen Schönheit zurückzufinden?
In dem Moment, als ich meine Bilder sah, habe ich verstanden, dass ich noch immer schön bin, anders schön: kraftvoller, lebenslustiger, offener.
Schönheit ist ein sehr dehnbarer Begriff. Wenn ich Vorträgen von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen sehe, ist mir egal, wie die Haut, die Figur, die Haare sind – das Leuchten in deren Augen, wenn sie von ihrem Fachgebiet erzählen, macht sie schön.
Was würden Sie gerne Frauen und generell allen Menschen (egal, welches biologisches und soziales Geschlecht, egal, ob mit oder ohne Brustkrebs) mit auf den Weg geben?
Viel zu viele Frauen definieren sich über ihren Körper – vor allem über die Brüste. In den letzten 13 Jahren, in denen ich Ansprechpartnerin für Brustkrebs bin, riefen mich zwei Männer an. Beide fragten mich, wie es ohne Brüste wäre; da ihre Frauen jeweils unter Kapselfibrose nach Brustaufbau litten. Die Männer sagten, dass sie durch die täglichen Schmerzen nicht mehr ihre „alten, wunderbaren Frauen“ seien. Beide Männer riefen eine geraume Zeit später noch einmal an und erzählten mir, dass ihre Frauen den Eingriff rückgängig gemacht hätten – und danach wieder ihre lustigen, zauberhaften Frauen gewesen wären.